Html.Raw(tbTexte.getText(171,1))
Politikwissenschaftler Roland Benedikter beim Burggräfler Bezirksparteitag
29.07.2025
Anlässlich des Bezirksparteitages hielt der Politikwissenschaftler Roland Benedikter einen Vortrag zum Thema „ Der Umgang mit Zukünften: Wer, wie, was? Ein kleines ABC der heutigen Weltansätze – und was wir in Südtirol daraus lernen können.“

Südtirol hat sich in den vergangenen Jahren stark entwickelt – in verschiedenen Gesellschaftsbereichen durchaus unterschiedlich. Dabei sind seitens der verschiedenen Akteure zum Teil auch unterschiedliche Zukunftsvorstellungen entstanden. Zukunftspläne im Wirtschafts- oder Technologie-Bereich unterscheiden sich von jenen im Tourismus- oder Landwirtschaftsbereich. Verwalter und Dienstleister stellen andere Anforderungen an die Zukunft als Handwerker oder Freiberufler. Generationen von jung und alt, ja sogar die Geschlechter haben unterschiedliche Idealvorstellungen jenes Landes entwickelt, auf das wir in den nächsten Jahren zusteuern sollten. Und zwischen sozialen Schichten, Parteien, Ideologien, Religionen, Ethnien und Interessensgruppen herrscht trotz grundsätzlicher Solidarität nicht immer Übereinstimmung darüber, wo das Land als Ganzes im Jahr 2030 und, weiter gedacht, im Jahr 2050 stehen soll.
 
Viele Südtirolerinnen und Südtiroler denken jedoch über die gemeinsame Zukunft nach. Sie erkennen, dass Veränderung immer rascher geschieht, Zukünfte deshalb schneller hereinbrechen und wir uns also vorbereiten müssen – möglichst über gesellschaftliche Spezialisierungs- und Bereichsgrenzen hinweg. Von Seiten der Politik haben sich dazu richtigerweise gemeinsame Dachstrategien etabliert. Die Nachhaltigkeitsstrategie der Landesregierung, der dazugehörige Klimaplan und die Entwicklungs-Schwerpunkte des NOI Technologieparks in Bozen und Bruneck sind überaus wertvolle große Klammern, die das Land zusammenhalten. Was aber bis heute fehlt, ist ein Ort, wo alle diese Strategien zusammenlaufen: eine ganzheitliche Zukunftsstrategie für das Land. Die Vorstellung, Nachhaltigkeit allein könne für die gesamte Zukunft stehen, überfordert die Nachhaltigkeitsagenda. Denn diese kann nicht alle Bereiche des Möglichen umfassen. Nachhaltigkeit, die absolut unverzichtbar und zentral bleibt, kann deshalb nicht einfach identisch mit der „ganzen“ Zukunft sein; und Zukunft als dasjenige, was noch nicht existiert, ist ihrer Definition nach, das Unmögliche einzuschliessen, nicht auf Nachhaltigkeit eingrenzbar.
 
Der Ruf der Zeit lautet deshalb: Südtirol braucht – zusätzlich zur weiterhin zentralen und unverzichtbaren Nachhaltigkeitsstrategie, in die sie sich eingliedern sollte – eine ganzheitliche Zukunftsdiskussion. Gelten sollte: keine Nachhaltigkeit ohne Zukunft; keine Zukunft ohne Nachhaltigkeit. Für die Zusammenführung beider gibt es konkrete Ansätze, für die die Wissenschaft inzwischen gute Grundlagen liefert. Einer ist der Ansatz des „Vorwegnehmenden Innovationsregierens“ (Anticipatory Innovation Governance) der OECD-OPSI. Er lehrt, Territorien „zukunftsvorwegnehmend“ zu regieren. Ein anderer ist der der Zukünftebildung (Futures literacy) der UNESCO. Sie will Zukunftskompetenz lehren und damit Menschen für Zukünfte bereit machen. Und ein dritter Ansatz ist der des „Zukunfts-Erprobens“ (Futures Casting). Er führt verschiedene Zukunftsoptionen visuell vor Augen wie bei einer Theaterprobe, ohne gleich eine zu bevorzugen. In Finnland hat das Parlament eine „Zukunftskommission“ eingeführt. Und in Finnland und Schweden gibt es eine eigene Zukunfts-Koordinationsstelle im Büro des Ministerpräsidenten. In Dubai müssen sich alle Führungskräfte von Verwaltung und Politik verpflichten, eine 6-monatige berufsbegleitende Ausbildung in Zukunftskompetenz zu absolvieren. Viele Staaten und Regionen haben Zukunftsräte eingeführt, die die langfristigen Zukünfte in Risiken und Chancen ins Auge fassen. Andere Länder dagegen haben Zukunftstage für die Bevölkerung eingeführt, wo ein dutzend Mal pro Jahr die Zukunft systematisch für offene Partizipationsprozesse geöffnet wird; und wieder andere, wie vor allem die skandinavischen Länder, veröffentlichen bei jedem Regierungsantritt ein eigenes „Zukunftsprogramm“, das nicht mit der Regierungsarbeit identisch ist, sondern alle Akteure im Land einbezieht. All dies könnte sich Südtirol abschauen – und sich damit für die Zukunft fitter machen. Weil unser Land dafür in seinen Institutionen und Akteuren die besten Voraussetzungen hat, sollten wir die Möglichkeit für „mehr Zukunft“ ergreifen – und die Zukunftsdiskussion zu einer fixen Größe, ja öffentlichen Einrichtung machen. Die Wissenschaft steht dafür bereit.
 
Roland Benedikter ist Politikwissenschaftler und Soziologe an der Eurac in Bozen.
 
*Erstmals erschienen unter dem Titel: Roland Benedikter: Eine Zukunftsdiskussion in Südtirol scheint notwendig. Gastkommentar. In: Dolomiten. Tagblatt der Südtiroler, Athesia Verlag, 03. Januar 2025, S. 15.